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Warum leugnet der Alkoholiker?

Nun erwarten wir vom Alkoholiker, dass er mit Einsicht und Gelassenheit antwortet: Ja, Herr Doktor, Sie müssen das ja wissen. Ich werde mit dem Trinken endgültig Schluss machen. Der Arzt verschreibt ihm dann etwas für seine angeschwollene Leber und seine zerrütteten Nerven. Dann kann der nächste Patient kommen.

So würden wir es uns wünschen. Tatsache aber ist, dass es nicht so sein kann. Die menschliche Persönlichkeitsstruktur ist derart, dass der Mensch einen solchen Schock (Alkoholiker zu sein), der eine Lebensänderung bedingt, nicht ohne weiteres hinnehmen kann. Der Mensch braucht Zeit und Ausdauer, diese Wende in seinem Leben zu bewältigen. In ähnlichen Situationen des Menschen nehmen wir das als ganz normal hin, nicht aber beim Alkoholiker.

Wenn der Arzt einem Patienten mit schwerer Rückenverletzung erklären muss, dass ärztliche Können sei hier am Ende und er werde den Rest seines Lebens in einem Rollstuhl verbringen müssen, wird auch er nicht so ohne Weiteres imstande sein, es einzusehen und es gelassen hinnehmen. Der Gedanke, ein solches Leben führen zu müssen widerstrebt ihm; er kämpft dagegen: so kann es der Arzt doch nicht gemeint haben, vielleicht hat er sich doch getäuscht. Er wird Zeit, Überwindung und Geduld brauchen, bis er sein Los annehmen und wieder ein zufriedenes Leben führen kann.

Auch der Krebskranke kann nicht so ohne weiteres vor der tödlichen Krankheit kapitulieren, solange er noch menschliche Kräfte in sich verspürt. Wir haben Verständnis für diese Kranken und können nur hoffen, dass sie es eines Tages einsehen werden.

Der Alkoholiker ist nicht in der Lage, die nackte Wahrheit anzunehmen

Der Alkoholiker ist oft nahe daran, seinen übermäßigen Alkoholgenuss zuzugeben. Er gießt den Rest einer Flasche in das Waschbecken und schwört sich selber, nie mehr ein Glas anzurühren. Wenn er dann am Morgen todkrank und hundeelend an die Arbeit gehen soll, greift er nach der leeren Flasche und sagt sich um Himmelswillen, was habe ich denn getan! Ich muss doch besoffen gewesen sein. Was ich brauche, ist ein Schluck aus der Flasche. Der Alkohol wird sein Freund und einziger Retter für einen neuen Arbeitstag. Der Alkohol tut ihm gut. Alkoholiker? er? Nein! Es ist für einen sonst gesunden, starken Mann einfach schwer, zu tragisch, zu beschämend, Alkoholiker zu sein. Es widerstrebt ihn, er kämpft dagegen, er leugnet es. Aber gerade dieser Zweifel, diese Ungewissheit bringen ihn einen Schritt weiter. Er ist auf sein übermäßiges Trinken aufmerksam geworden. Durch das Aufgebot all seiner Willenskraft, sich und anderen zu beweisen, dass er nicht Alkoholiker sei, aber auch durch sein ständiges Versagen macht er weitere Erfahrungen, die ihm das Eingeständnis etwas näher bringen. Das Leugnen ist ganz normal für den Menschen, der die Sachlage nicht gleich einsehen kann.

Die moralisierende Umwelt

Die moralisierende Umwelt ist ein zweiter Grund zum Leugnen. Der spätere Alkoholiker hat schon als Kind hören müssen, wie charakterlos, gewissenlos und selbstsüchtig die Trinker von seinen Eltern, Freunden und Bekannten beurteilt werden. Im Religionsunterricht, von der Kanzel hat er die moralisierende und dämonisierende Beurteilung gehört und es hat bei ihm einen tiefen und schrecklichen Eindruck hinterlassen. Das Brandmal, das die Umwelt dem Alkoholiker auferlegt, drückt ihn schwer. Diese Schande kann er nicht ertragen und nirgendwo und bei niemandem findet er Erleichterung außer im Alkohol. Er rafft sich auf, stürzt sich in die Arbeit um zu beweisen, dass er nicht ein schwacher, charakterloser und unverantwortlicher Mensch ist. Keiner bemüht sich so sehr, kontrolliert zu trinken wie der Alkoholiker, wenn auch keiner so sehr versagt. Die moralisierende Umwelt gibt dem Alkoholiker einen weiteren Grund, seinen Alkoholismus zu leugnen. Das ist nicht nur normal, sondern er hat auch recht, denn er ist nicht das, was die Menschen aus ihm machen. Seine Frau, sein Arbeitgeber bekräftigen ihn in seiner Meinung. Wenn er nicht trinkt, ist er ein arbeitsamer, tüchtiger und lieber Mensch und nicht ein Saufbold, ein Alkoholiker, ein Nichtsnutz.

Gott seis gedankt, in den Fachkreisen wird der Alkoholiker heute nicht mehr so beurteilt und auch in der menschlichen Gesellschaft tut sich schon etwas. Auch für die Umwelt wird es ein mühsames Erlernen der Tatsachen werden, und durch schmerzliche Erfahrungen werden auch die Mitmenschen Schritt für Schritt zur Erfahrung und Einsicht kommen, dass Alkoholismus eine Krankheit ist.

Menschen, denen ein solches Brandmal auferlegt wurde, Menschen, die unter einem krankhaften Schuldbewusstsein seufzen, brauchen Hilfe. Hilfe finden sie z. B. in einer AA-Gruppe. So mancher horcht auf, wenn er in der Gruppe hört:
Es ist keine Schande krank zu sein, aber es ist eine Schande,
nichts gegen eine Krankheit zu tun.
Der Alkohol hat die Gesundheit ruiniert, das Denken beeinflusst, die Tatsachen verfälscht, er wurde unser Erpresser. Wir kamen zum Glauben, dass nur eine Kraft, die größer ist als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann. Diese Alkoholiker reden von einem Gott, der zu ihnen steht, der unter ihnen ist. Hier wird der Alkoholiker angenommen, so wie er ist. Er wird zurück geholt in die menschliche Gesellschaft, er wird als vollständiger Mensch betrachtet und behandelt. Er verspürt eine übermenschliche Hilfeleistung und es wird ihm tatsächlich leichter. Die Verkrampfung löst sich, die Schuldenlast wird erträglicher und er verspürt neue Kraft, die ihn wieder Hoffnung schöpfen lässt. Ganz freimütig bekennt jeder seine Fehler und Vergehen und ist überzeugt, dass Gott sie beseitigen wird. Hier wird nicht über die Fehler anderer gesprochen, hier will man nicht die böse Welt ändern, denn man ist überzeugt, wenn man sich selbst ändert, ändert sich mit uns auch die Umwelt.

Warum? Warum? Warum?

Der Verletzte im Rollstuhl fragt sich, warum musste das gerade mir passieren? Der Krebskranke fragt sich, warum musste ich diese Krankheit haben? Was habe ich denn falsch gemacht in meinem Leben? Warum straft mich denn der Herrgott? Ich glaube, auch für den Alkoholiker ist die Frage, warum es gerade ihm widerfahren musste, die schwerste und schmerzlichste Periode, die er durchstehen muss. Auch der Alkoholiker fragt sich: Warum muss ich denn alle Tage trinken? Warum kann ich denn nicht aufhören mit dem Trinken, wenn ich will? Bin ich ein schlechter Mensch? Warum bestraft mich denn Gott? Das Tragische an dieser Periode ist, dass sie auch die unfruchtbarste ist. Seine Gefühle sind zerrissen. Er kann seine Kräfte nicht sammeln, um seine Lage zu ertragen. Er kämpft gegen Gott, gegen sich selbst, gegen alle und alles, nur nicht gegen seine Krankheit. Die Warum-Periode ist schmerzlich und verzweifelnd, denn es gibt keine Antwort. Gründe, die er selbst, seine Frau, der Arzt, der Psychiater, der Seelsorger für sein unmäßiges Trinken angeben, lassen ihn unbefriedigt. Manche kommen über diese Warum-Periode hinweg, andere ziehen sich wie ein verwundetes Tier in das Gestrüpp des Urwaldes zurück und in der Einsamkeit leiden sie für ein Verbrechen, dessen sie sich nicht schuldig fühlen. Andere wiederum geben sich teilnahmslos und gleichgültig dem Schicksal hin. Es hat keinen Sinn mehr, sich zu verteidigen. Es hat keinen Sinn, um das Warum? zu fragen. Sie vegetieren mehr als sie leben. Auch aus dieser schweren Lage kann ihm die AA-Gruppe hinweghelfen. Er hört, wie seine Freunde dasselbe durchgemacht haben und auch diese Periode überwunden haben. Wichtig ist nur, dass er aus tiefster Seele zu trinken aufhören will, dass er einsieht und zugibt, dass er mit seinem Leben nicht mehr fertig werden kann. Die unnütze Frage, warum er Alkoholiker geworden ist, verschwindet im Hintergrund. Wichtig ist nur, dass er aus dieser Misere herauskommt.

Mit sich selbst ehrlich sein ist schwer

Jeder hat eine feine Art der Selbsttäuschung, von der kaum ein menschliches Wesen ausgenommen werden kann. Jeder Mensch, der in sich selbst hinein schauen will weiß, dass er einen langen Weg hat bis zur Ehrlichkeit.

Jahre hindurch waren es seine Frau, seine Eltern oder Arbeitgeber, die den Alkoholiker gegen die Anschuldigungen der Mitmenschen verteidigten. Er hat sich gerne überzeugen lassen, dass er sein Trinken unter Kontrolle hat. Sein Verteidigungssystem wird eine automatische Handlung. Einerseits hält er sich nicht für einen charakterlosen Menschen, also kann er kein Alkoholiker sein, andererseits wird sein Trinken immer unerträglicher. Wer möchte sich aber eine völlige Niederlage eingestehen? Jeder natürliche Instinkt wehrt sich in ihm gegen ein solches Eingeständnis seiner Machtlosigkeit dem Alkohol gegenüber. Es ist in der Tat schrecklich für ihn, wenn er zugeben muss, er habe selbst durch sein Glas in der Hand sein Denken und sein ganzes inneres Wesen in die Sucht eines so destruktiven Trinkens getrieben. Es ist schwer für ihn, dass er die Macht über sich selbst verloren hat und ein Sklave des Alkohols geworden ist. In der AA-Gruppe lernt er wieder, ehrlich mit sich selbst zu sein. Er erfährt von seinen Freunden, dass kein noch so großer Aufwand an Willenskraft ihn von diesem Trinkzwang befreien kann, sondern nur wer ehrlich mit sich selbst ist, hat eine Chance.

Sich selbst annehmen

Ich glaube, keine Gruppe von Menschen hasst sich selbst so sehr wie die Alkoholiker sich hassen. Unsere moralisierende und dämonisierende Beurteilung des Alkoholikers bekräftigt sie in ihrem Selbsthass. Die Statistik bestätigt, dass Selbstmord und Selbstmordversuche bei den Alkoholikern siebenmal höher stehen als bei den Nichtalkoholikern, während Mord bei ihnen niedriger liegt als bei anderen Menschen.

Hat der Alkoholiker einmal erfahren und verspürt, dass er von anderen angenommen und aufgenommen wird so wie er ist, wird es ihm nun leichter gemacht, sich selbst anzunehmen als Alkoholiker, aber dennoch als menschliches Wesen. Ein Alkoholiker hat in seinem Leben einen Punkt erreicht, wo er mit Alkohol, aber auch ohne Alkohol im Leben nicht mehr auskommt. Ein Leben mit Alkohol ist schlimm geworden, aber schlimmer muss noch ein Leben sein ohne Alkohol. Er schreckt zurück, den letzten Schritt zu tun: endgültig mit dem Alkohol Schluss zu machen, der durch lange Jahre sein Lebensgefährte und Freund war, der ihm über viele schwierige Situationen hinweggeholfen hat. Der Abschied vom Alkohol fällt ihm schwer. Es ist eine Lebensentscheidung, eine Lebensänderung. Der Alkoholiker muss seinetwegen zu trinken aufhören, er muss seinetwegen das Leben ändern und nicht anderer wegen.

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