Kontrollverlust
Einen Kontrollverlust der eher harmlosen Art hatten wir wohl alle schon einmal. Denken wir doch mal an die Tüte mit den leckeren Schoko-Rosinen. Sie liegt vor uns, wir öffnen sie und möchten, ja wirklich (!), nur ein, zwei, vielleicht auch drei Rosinen daraus naschen.
Köstlich diese Schokolade, die weiche Rosine... nach und nach nehmen wir eine weitere und, und... Das Spiel der Gedanken beginnt. Eine könnte ich ja noch essen vielleicht noch eine. Irgendwann, ehe wir uns versehen ist die Tüte leer. Das wollten wir ursprünglich nicht, wir müssen ja an die Schlanke-Linie etc. denken. Wir haben es dennoch getan.
Jeder kennt diesen Verlust der Selbstkontrolle für sich in irgendeiner Weise. Der Kontrollverlust ist ein Streben und Drang nach lustvollen, angenehmen Gefühlen, auch wenn er subjektiv häufig als Zwang empfunden wird.
Es gibt immer Dinge, die wir gerne tun würden, die wir uns jedoch aus verschiedenen Gründen selbst untersagen, sei es moralisch oder auch weil es verpönt ist. überfällt uns aber ein Wunsch, etwas zu tun, was wir mit unseren Schuld- und Schamgefühlen eigentlich nicht verantworten können, suchen wir nach einer Möglichkeit, es trotz unserer Bedenken zu tun. Hier kommt der Kontrollverlust wie gerufen. Wir geben die Kontrolle auf und schieben die Schuld auf unseren Kontrollverlust. Der sogenannte Kontrollverlust schützt uns also vor unseren eigenen Scham- und Schuldgefühlen.
Kontrollverlust bedeutet also einen drängenden Wunsch gegen eine bewusste Ablehnung in die Tat umzusetzen.
Was heißt Kontrollverlust in Bezug auf Sucht?
Bei der Sucht geht es darum ein selbstschädigendes, aber lustversprechendes Vorhaben gegen die eigene Vernunft durchzusetzen. Der Kontrollverlust ermöglicht das süchtige Verhalten. Einen Kontrollverlust kann nur jemand erleben, der sich kontrollieren will. Oft merkt ein Süchtiger erst, dass er die Kontrolle verloren hat, wenn er sich seinem Suchtmittel entziehen will.
Was heißt süchtiges Verhalten?
Süchtiges Verhalten ist zunächst nur eine Handlung mit dem Ziel und Zweck, sich besser zu fühlen. Viele Menschen verhalten sich süchtig, ohne dadurch in die Sucht abzugleiten. Sie weichen durch ihr süchtiges Verhalten lediglich unangenehmen Gefühlen und Situationen aus und dabei bleibt es. Diese Menschen stillen mit Alkohol nicht ihren körperlichen Durst, sondern den seelischen Durst.
Vom süchtigen Verhalten zur Sucht ...
Einer Sucht geht immer süchtiges Verhalten voraus. Es ist unsagbar schwer, eine Grenze zwischen süchtigem Verhalten und Sucht zu ziehen. Alkoholtrinken dient jetzt ausschließlich der Beseitigung von negativen Gefühlen. Alkohol wird das Mittel zum Zweck. Das Trinkverhalten des Betroffenen beginnt jetzt aufzufallen. Es kommt beim Betroffenen zum inneren Konflikt zwischen dem Sollen und Wollen. Einerseits sehnt er sich die schönen Gefühle herbei, die er durch das Trinken bekommt, andererseits wird sein Trinkverhalten auffällig. Hat er bislang noch bewusst "ja" zu seinem unkontrollierten Trinken gesagt, kommt es jetzt zum heimlichen "ja".
Der Trinker gewinnt seine guten Gefühle jetzt nur noch durch den Alkohol und verliert gleichzeitig die Kontrolle über sein Trinken. Er muss sich nicht mehr mit seinen Problemen herumquälen, hat er doch ein Mittel, dass ihm sofortige Befreiung verschafft, er wird unfähig sich in Bezug auf Alkohol zu beherrschen. Wer es jetzt nicht schafft, vom bereits abfahrenden Zug der Sucht zu springen, wird alkoholkrank. Schafft der Trinker es, seine Probleme zu lösen und seine negativen Gefühle auch ohne Alkohol zu ertragen, hat er jetzt noch eine Chance.
In der Sucht gefangen ...
Den Grad der Abhängigkeit kann man nicht an der getrunkenen Alkoholmenge messen. Der Trinker braucht jetzt jedoch regelmäßig eine gewisse Menge Alkohol um sein "Sich-besser-fühlen" zu erreichen. Mit weniger Alkohol geht es nicht mehr. Es kommt durch die zunehmende Gewöhnung auch zu einer Dosissteigerung, die gesellschaftlich nicht mehr toleriert wird.
Viele Alkoholkranke bemerken jetzt, dass sie die Kontrolle über ihr Trinken verloren haben. Sie bemerken, dass mit ihnen und ihrem Trinkverhalten etwas nicht stimmt. Sie wissen genau, dass sie weniger trinken sollten. Sie versuchen "Trinkmuster" oder wollen einfach nur weniger trinken, aber das "bringt es nicht". Entweder trinkt der Alkoholkranke seine "Wohlfühlmenge" oder er kann es auch gleich bleiben lassen. Aber jetzt aufzuhören mit dem Trinken würde heißen, auf die guten Gefühle, die ja durch den Alkohol NOCH da sind, zu verzichten. Sind die Verhältnisse des Alkoholkranken relativ geordnet, so kann sich diese Phase der Sucht über Jahre hinziehen.
Die Sucht erzeugt die Sucht ...
Die Sucht fordert jetzt mehr und mehr ihren Tribut. Waren es früher die negativen Gefühle die "weggetrunken" werden sollten, werden jetzt die unangenehmen Gefühle, die durch die Sucht entstehen bekämpft. Der einstige "Helfer" Alkohol wird zur Ursache und wird wiederum mit Alkohol bekämpft. Der Alkoholkranke versucht jetzt nicht mehr, sich zu kontrollieren. Er kämpft nicht mehr gegen sein Trinkverlangen an. Der Betroffene sehnt sich nach den angenehmen Gefühlen, die ihn einst der Alkohol geschenkt hat, erreicht sie aber nicht mehr. Irgendwann begreift er, dass er sie nicht mehr bekommen wird und trinkt dann um sich zu betäuben. Durch den daraus folgenden seelischen, sozialen und gesundheitlichen Niedergang gelangt er an seinen individuellen Tiefpunkt. Der Alkoholkranke erkennt, dass es für ihn so nicht mehr weitergehen kann. Viele Niederlagen und der damit verbundene Leidensdruck lassen bei dem Suchtkranken die Erkenntnis reifen, dass es keine andere Rettung mehr gibt, als aufzuhören. Der Wille zum Aufhören kommt meist aus tiefster Verzweiflung. Diese Verzweiflung ist aber die Voraussetzung für eine dauerhafte Abstinenz.
Der Weg aus der Sucht ...
Der Betroffene muss erkennen, dass es ihm nur besser gehen kann, wenn er sein Leben selbst in die Hand nimmt. Eine Therapie kann ihm dabei beispielsweise sehr helfen. Dort lernt er, sein Leben wieder selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu leben. Er muss sehr an sich arbeiten und seine in ihm schlummernden Fähigkeiten zu entdecken und sein "neues" Leben zu meistern. Ein ehemaliger Patient einer Fachklinik nannte das mal treffend: "Drei Monate für ein besseres Leben".
Warum kommt es zu Rückfällen?
Wenn die Betroffenen nun so leidvolle Erfahrungen gemacht haben, warum kommt es dann immer wieder zu Rückfällen? Vom Verstand her wissen die meisten trockenen alkoholkranken, dass sie nichts trinken sollten. Was schmerzt, sind die Gefühle. Der trockene Alkoholkranke hat nicht vergessen, dass ihm der Alkohol einst angenehme Gefühle geschenkt hat. Was letztlich einen Rückfall auslösen kann ist individuell verschieden. Zunächst kommt es zu einem Spiel der Gedanken (beispielsweise: "Könnte mir denn dieses eine Gläschen schaden?"). Dieses Gedankenspiel löst den Kontrollverlust aus - das soll heißen der Betroffene gibt es auf, sich zu kontrollieren. Dem eigentlichen Rückfall, dem ersten Schluck geht also ein gedanklicher Rückfall voraus. Durch die gedankliche Vorbereitung wird das eigentliche Trinken wieder in Gang gesetzt. Nicht der erste Schluck Alkohol selbst löst den Kontrollverlust aus, sondern umgekehrt, der Kontrollverlust löst den ersten Schluck aus.
Versehentlich getrunken = Rückfall?
Es kann einem trockenen Alkoholkranken passieren, dass er versehentlich ein Stück Torte mit Alkohol isst oder zum falschen Glas greift. Dennoch sollte der Betroffene deshalb nicht in Panik verfallen, wenn es denn mal passiert ist und es WIRKLICH versehentlich war. Denn nur die gedankliche Vorbereitung löst den eigentlichen Rückfall aus. Dennoch sollten trockene Alkoholkranke sehr bewusst leben, denn durch den Alkoholgeschmack kann die Erinnerung an die guten Gefühle durch den Alkohol geweckt werden.
Alkoholfreies Bier - das Spiel mit dem Feuer
Angeblich alkoholfreies Bier enthält bis zu 0,5 % Alkohol - das dürfte mittlerweile bekannt sein. Darin liegt aber nicht die eigentliche Gefahr für den trockenen Alkoholkranken, da ja nicht der erste Schluck Alkohol selbst den Kontrollverlust auslöst, sondern umgekehrt.
Man hat Blindtests mit alkoholfreien Bier gemacht. Die Probanden wussten nicht, ob sie alkoholhaltiges oder angeblich alkoholfreies Bier tranken. Auch die Testpersonen, die nur alkoholfreies Bier getrunken haben, fühlten sich alkoholisiert, obwohl sie eine kaum nennenswerte Blutalkoholkonzentration hatten!
Trinkt ein trockener Alkoholkranker alkoholfreies Bier, zeigt dies einmal, dass er noch immer nicht ganz auf Bier verzichten kann - er rückt dem "echten" Bier gefährlich nahe. Das alkoholfreie Bier kann das sogenannte Spiel der Gedanken wieder in Gang setzen. Der Betroffene erinnert sich an die schönen Gefühle, die er einst mit dem Alkohol bekommen hat. Er ebnet sich so den Weg zum Rückfall.